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Do 13. Dez 2012, 01:38 - Beitrag #561 |
Taqwacore hat mich auch sehr beeindruckt, als ich es vor einiger Zeit laß. Ich empfand die jungen Leute als eine heftige Mischung aus religiöser Ernsthaftigkeit und deftiger Lebenslust^^ wobei mir die Ernsthaftigkeit immer etwas unbeholfen vorkam^^
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Wer bist du, dass du die Qual lindern kannst und es nicht tust ...
-------------------------------------------------------------------------- ... nicht das Licht und nicht die Finsternis ... die Schatten, die leisen Übergänge ... |
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Do 13. Dez 2012, 20:43 - Beitrag #562 |
Finkelstein, Silberman: Keine Posaunen vor Jericho.
Zur ABwechslung mal ein Sachbuch. Grob gesagt geht es um eine kritische Betrachtung des Alten Testament. Es geht um die Frage, inwieweit sich die der Bibel geschilderte Geschichte Israels durch archäologische Funde sowie ägyptische und assyrische Quellen bestätigen oder widerlegen lässt. Und wann, wie und welcher Situation der Jahwe-Kult und die entsprechenden Schriften entstanden sein dürften. Insgesamt sehr spannend und vor allem skeptisch wiet ab der "historisch-kritischen" Theologie mit ihren Däniken-Methoden. Die Argumente sind eiskalt: Im Buch Genesis kommen ständig Kamele vor, das heißt jene Erzählung wurde zu einer Zeit niedergeschrieben, in der es im Nahen Osten bereits Kamele gab. |
"Merkel und Steinmeyer werden noch als dunkles Kapitel in den Geschichtsbüchern erscheinen, fürchte ich. Und Schily als ihr Wegbereiter." janw
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Mi 2. Jan 2013, 12:27 - Beitrag #563 |
Louis-Ferdinand Céline
Voyage au bout de la nuit (Reise ans Ende der Nacht) Gallimard, Paris 1932 gelesene Ausgabe deutsche Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003 Tja, also zu guter Letzt doch Céline. Als Mensch ein Misanthrop von seltenem, jedenfalls epischem Ausmaß, dazu ein Frauenaufreißer übelster Sorte. Als ζῷον πολιτικόν ein Antisemit und Rassist. Auch der übelsten Sorte. Als Staatsbürger ein Faschist, glühender Parteigänger Nazi-Deutschlands und Bewunderer Hitlers, der mehrere Jahre versuchte, in die Dienste der SS aufgenommen zu werden, wofür er während des Krieges mehrmals Ziel von Operationen der Resistance und nach dem Krieg zum Tode verurteilt wurde (wovor er durch die Generalamnestie 1951 verschont blieb). Über die Details informiert bei Interesse Wikipedia. Es gibt nicht den geringsten Grund, sich mit Céline zu beschäftigen, es sei denn, man sucht abschreckende Beispiele des Verkommenen. Leider ist er nebenbei der wichtigste französische Schriftsteller des 20ten Jahrhunderts. Ja, die Namen Proust, Camus und Sartre sind mir geläufig. Auf europäischer Ebene steht er neben Joyce. Oder Joyce neben ihm. Auf Augenhöhe. Céline ist ein Ärgernis. Man darf ihn nicht lesen. Man muss ihn trotzdem lesen. All das wusste ich noch nicht über ihn, als ich zufällig über Reise ans Ende der Nacht stolperte. Ich hätte das Buch sonst nie in die Hand genommen. Und eine Offenbarung verpasst. Céline mutet in diesem autobiografisch angehauchten Buch in einer Weise zu, die literarisch einzigartig ist. Sein Thema ist die menschliche Gemeinheit, Gemeinheit en gros wie en detail. Sein alter ego Ferdinand absolviert eine Art Schelmenreise durch die Abgründe der menschlichen Psyche, die ihn über drei Kontinente von Paris nach Paris führt. Überall, in den Schützengräben Flanderns während des ersten Weltkriegs, in den französischen Kolonien in Zentralafrika, im rezessionsgebeutelten Amerika der späten 20er Jahre und dann wieder in der Pariser Banlieue begegnet er der menschlichen Gemeinheit in ihren schlimmsten Formen. Was die Soldaten einander antun, lässt sich vielleicht noch als Krieg abtun, allerdings nur solange, bis man liest, wie die französischen Kolonialisten mit den schwarzen Ureinwohnern umspringen. New York und etwas später Detroit halten eine andere Form von Unheimlichkeit bereit, eine fiebrige Auflösung des Menschlichen im Diktat des Kommerz, schon damals. Die dichteste und konzentrierteste Form von Gemeinheit erlebt er aber als Armenarzt in der Pariser Banlieue. Wie das junge Mädel da auf dem Bett liegt, am Rande, unten rinnt Blut vom Bett-Tuch, Ferdinand erkennt sofort die illegale Abtreibung und rät der unentwegt geifernden Mutter die sofortige Einlieferung ins Krankenhaus als letzte Möglichkeit, das Leben der jungen Frau zu retten: Und wie die Mutter den Vorschlag empört abweist, mit der schlichten Verfügung "Die Familienehre muss gewahrt bleiben": Da gefriert schon das Herz vor Beklommenheit. Oder wie der Arzt sich davon schleichen muss, weil er sich weigert, die tatterige Oma in die Psychiatrie einzuweisen, obwohl man doch deren Zimmer vermieten muss. Szenen wie diese, in einer Sprache, die das Französische eigens und neu erfunden zu haben scheint, lassen den Schriftsteller Céline in einem Licht erscheinen, das auf´s Erbarmungsloseste mit dem Menschen Céline in Konflikt steht. Céline ist kein Existentialist, aber er beschrieb den Ekel sechs Jahre vor Sartre. Nur dass sein Ekel nicht aus dem ästhetisierenden Überdruss einer übersättigten Intellektualität resultiert, sondern den Ekel des ausgebeuteten Menschen vor den Grundlagen seines Daseins beschreibt. Mitsamt einigen der Folgen. Ich schaffe es nicht, den Konflikt zwischen Schriftsteller und Mensch aufzulösen. Die französische Literaturwissenschaft vermag das seit 50 Jahren nicht. Céline ist ihre Nemesis und große Verführung zugleich. Ich bin einfach nur fasziniert und abgestoßen. |
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Mi 2. Jan 2013, 14:39 - Beitrag #564 |
Oha... Vielen Dank für diese erhellende Rezension und Einführung, Ipsissimus! Ich hätte es ebenfalls nicht gewußt - und merke es mir unbedingt vor, für später einmal.
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Die rechten Christen führen keinen Krieg - Jacob Böhme
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Mi 2. Jan 2013, 15:10 - Beitrag #565 |
Ich habe mir das Buch vor ein paar Tagen bestellt, weil es so aussah, als würde es als nächstes im Lesekreis gelesen werden... vielen Dank für die Rezension!
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Meine Schwermut ist die treueste Geliebte, die ich je gehabt habe; was Wunder, daß ich sie wieder liebe.
Kierkegaard |
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Mi 2. Jan 2013, 18:09 - Beitrag #566 |
Der Titel sagte mir etwas, der Autor nicht... Aber gegen die Behauptung, Sartres Ekel entstamme nur "übersättigter Intellektualität", muss ich doch protestieren, er und Camus hatten durchaus genug Reallebenserfahrung, um diesen aus echten Problemen zu ziehen und intensiver, eben existentieller zu spüren als viele andere Philosophen; wenn das Ergebnis dann auch zugegebenermaßen bei Sartre eher rein verkopft war und nur bei Camus mit echten Menschen mitfühlend.
J.R.R. Tolkien - The Hobbit, nötige Auffrischung vor und nach dem Film und Georg Bernardini - Der Schokoladentester, bisher nur stichprobenhaft. |
Year by year, month by month, day by day... Thought by thought. Leonard Cohen
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Fr 4. Jan 2013, 10:02 - Beitrag #567 |
na, darüber könnte man sich unterhalten, inwieweit Sartres persönliche Erfahrungen in die Reflektionen und Interpretationen Antoine Roquentins eingeflossen sind^^ ich traue derart glatten Parallelen (Le Havre - Bouville, Depressionen - Ekel) nicht allzusehr. Ein Buch wie La nausée schreibt sich nicht auf Grundlage vorübergehender depressiver Verstimmungen. Camus habe ich an der Stelle nicht erwähnt^^
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Fr 4. Jan 2013, 13:47 - Beitrag #568 |
Ich kenne Sartres Biographie kaum, kann also keine expliziten Parallelen ziehen, und bin auch nicht ihr größter Freund. Ich will nur darauf hinaus, dass schon seine Grobbiographie (politisches Klima, später Krieg) und sein gesellschaftliches Engagement nahelegen, dass er kein reiner Elfenbeintürmler war.
Camus war als teilweiser Gegenpol gedacht, ähnliche Voraussetzungen und Schritte, anderes Ergebnis. |
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Fr 11. Jan 2013, 22:44 - Beitrag #569 |
Peter Sloterdijk: Die nehmende Hand und die gebende Seite. Ich weiß noch nicht, ob das Ganze tatsächlich (wie er behauptet) auf Utopismus hinauslaufen soll, oder ob er wirklich überzeugt ist, dass ein auf Spenden statt Steuern basierender Fiskus funktionieren könnte. Ich finde die These nur einen Tick wahrscheinlicher als die des Bürgergelds. Sloterdijk würde mir nun wohl eine auf Selbsterkenntnis basierende Misanthrophie vorwerfen.
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Sa 12. Jan 2013, 19:25 - Beitrag #570 |
Jasper Fforde - Lost in a Good Book
Hm, den Vorgänger "The Eyre Affair" habe ich hier anscheinend zu notieren vergessen. Laut halbwegs glaubwürdigen Quellen (Noriko) gehört Fforde zu den muss-man-gelesen-haben-Autoren von "far fetched fiction", um Robert Rankins Autogenrefizierung mal auf den ganzen Haufen à la Adams, Pratchett, Gaiman auszudehnen. Die "Thursday Next"-Reihe spielt in einem 1985er Parallel-England, in dem u.a. Wales als "People's Republic" unabhängig ist, eine suspekte Corporation das öffentliche Leben bestimmt und vor allem arkane "Special Operations"-Abteilungen arbeiten, von der "Chrono Guard" über Vampir-Pfähler bis zu den "Literary Detectives", denen Hauptfigur Next angehört (da es aus dem Namen nicht hervorgeht: eine Frau übrigens, s.u.). Letztere sind so besonders, da sich in diesem Universum normale Welt und "book world" immer wieder durchdringen, Charaktere aus Büchern in die Realität wechseln können und umgekehrt. Was im ersten Band intensiv mit "Jane Eyre" geschieht. Im zweiten kam bisher vor allem Shakespeares "Cardenio" vor. Fforde schreibt weniger wirr als Adams oder Rankin, hat von der Absurdität abgesehen recht vernünftige Handlungen und nimmt seine Figuren ernst. Als wichtigste Humorspezialität teilt er sich mit Adams den "grammatikalischen Humor", aber auch viele Wortspiele und einfach abstruse Situationen sind dabei. Leider führt das Figurenernstnehmen dazu, dass Thursday's Privatleben zu viel Raum einnimmt - ihre Familie, Vergangenheit und Liebesgeschichte bringen zwar auch einige gute Witze hervor, tragen zur Handlung aber eigentlich viel zu wenig bei. Also ein gutes Beispiel eines Buches von einem Mann über eine Frau für gemischtes Publikum, bei dem mich als Mann die ""Frauen-Thematiken"" stören. Da muss ich mich dringend mal wieder im entsprechenden Thread melden. |
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Sa 12. Jan 2013, 22:50 - Beitrag #571 |
Heinrich von Kleist - Die Marquise von O. Sehr kurze Novelle, mein erster Kontakt mit Kleist, sehr angenehm zu lesen, wenn auch mit grausligem Inhalt, der durch die Weise der Darstellung in keiner Weise als schrecklich fühlbar ist (zumindest mir gelang das nicht). Auch sehr romantisch, mit starkem Gefühlsschwange. Hat mir gefallen.
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Mo 14. Jan 2013, 16:32 - Beitrag #572 |
Geraden fertig gelesen:
Sylvia Iparraguirre: Land der Feuer. Die Autorin liefert die Pseudoautobiografie eines argentinischen Gauchos und Seemanns, im Mittelunkt steht des Zusammentreffen mit dem Feuerland-Indianer Jemmy Button. Alles in allem sicherlich kein Frauen-Roman, auch wenn der edle Wilde meiner Meinung zu sehr Öko ist. Als nächstes, nicht ganz unähnlich: J. F. Cooper: Der Wildtöter. Der erste von vier Teilen der berühmten Lederstrumpf-Reihe. Sie prägte gleich mehrere Genres, zum einen den Western aber auch den historischen Roman. Schon die ersten Seiten erfreuen mich mit ihrer heißblütigen Kaltherzigkeit. |
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Mo 21. Jan 2013, 23:19 - Beitrag #573 |
Irgendwas hatte ich auch von JF Cooper gelesen, Lederstrumpf? Der letzte Mohikaner war es wohl.
Gerade: Ludovico Ariosto, Orlando furioso, bzw. Ludwig Ariost, Der rasende Roland. Ein Versepos in 46 Kapiteln. Ich bin glaube ich gerade im 14. Gesang, habe Ahnenreihen biblischen Ausmaßes (im wörtlichen Sinne) an mir vorüberziehen sehen, und bin etwas amüsiert über die Kindergartenpsychologie, mit der Karl der Große von Gott den Sieg über die Sarazenen erbittet: Ja, ich bin ein Sünder, bestraf mich, aber nicht, indem du unsere Feinde heute gewinnen lässt, denn dann denken die ja, du könntest ihnen nichts anhaben. Scheint funktioniert zu haben ![]() |
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Kierkegaard |
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Mo 21. Jan 2013, 23:31 - Beitrag #574 |
[spoiler]Ach, der arme Roland. Am Ende musste er doch die Handschuhe abgeben.[/spoiler]
Den letzten Mohikaner las ich letztes Jahr. Er war deutlich stärker als der Wildtöter. Ich bin von dem Buch schon ein wenig enttäuscht und hatte da irgendwie aufgrund des Mohikaners mehr erwartet. Es hatte nicht den gleichen Zauber. |
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Di 22. Jan 2013, 20:50 - Beitrag #575 |
Noch zu obigem:
Sentenzen > Handlung > Ahnentafeln.* * > = cooler als. |
Meine Schwermut ist die treueste Geliebte, die ich je gehabt habe; was Wunder, daß ich sie wieder liebe.
Kierkegaard |
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Mi 23. Jan 2013, 04:52 - Beitrag #576 |
Gerade gelesen:
Jared Diamond - Der dritte Schimpanse Es ist ein Buch über den Menschen und seine Geschichte. Jared Diamond war ursprünglich Physiologe, daneben Vogelkundler und in dieser Eigenschaft Besucher der Urwälder Neuguineas und der dortigen Ureinwohner. Ein zentrales Thema ist, was den Menschen zu einem so besonderen Tier macht. Physiologisch sind wir nur eine dritte Schimpansenart und doch sind wir ohne Zweifel in vielen unseren Verhaltensweisen etwas besonderes: nicht nur, dass wir Technologie und Sprache besitzen, sondern auch in Sexualverhalten, künstlerischer Tätigkeit, Drogenkonsum etc. Diamond nähert sich diesen Besonderheiten mit dem Auge eines Evolutionsbiologen und vergleicht sie mit anderen Tieren - dabei stellt er immer wieder verblüffende "Vorformen" und Parallelen fest. Vergleiche kommen hier neben anderen Affenarten auch viel aus dem Vogelreich. Besonders ausführlich beschäftigt sich Diamond auch mit der menschlichen Neigung zum Genozid und der Ausrottung von Arten. Dabei räumt er mit dem Vorurteil vom "edlen Wilden" (das in manchen Köpfen ebenso feststeht wie in anderen das des "barbarischen Wilden") auf und gibt eine ausgewogene Darstellung. So ziemlich jedes Mal, wo Menschen einen vorher fremden Lebensraum (wie Neuseeland, Madagaskar oder Amerika) betreten haben, haben sie massenhaft Arten ausgerottet, entweder direkt oder indirekt. Zum Genozid führt er auch Berichte an, wie auch Schimpansen versuchen, eine benachbarte Gruppe umzubringen (dabei aber bemerkenswert ineffizient sind). Zusätzliche Themen, die Diamond aufgreift, sind: Der Übergang vom Jäger-und-Sammler-Dasein zur Landwirtschaft; warum die Europäer die "Beherrscher der Welt" geworden sind und nicht Amerikaner (Ureinwohner) oder Afrikaner (er führt hier geographische Ursache und Vorhandensein von domestizierbaren Pflanzen und Tieren an); Ursprungsgebiet der Indogermanen. Was ich wunderbar an diesem Buch finde, ist, dass es nicht-triviale Ideen auszusprechen pflegt. Es ist fern davon, nur eine Aneinanderreihung von Fakten oder von trivialen Schlüssen zu sein. Zu jedem Punkt in diesem Buch hat Diamond etwas interessantes zu sagen. Darüberhinaus hat er auch einen netten Schreibstil. Etwas getrübt wird dieses Vergnügen nur dadurch, dass im zweiten (weniger evolutionsbiologisch geprägten) Teil häufiger dazu neigt, Sachen etwas einseitig darstellt und nicht sorgfältig genug Alternativen zu seinen Ideen diskutiert. Insgesamt aber eine deutliche Empfehlung. Momentan lesend: Stendhal - Die Kartause von Parma Wurde schon als "der schönste aller Romane" und als "Geschenk der Götter" bezeichnet - da muss ich mal zugreifen, dachte ich mir. Der Roman spielt im italienischen Adelsmilieu der spät- und nach-napoleonischen Zeit. Hauptfigur ist wohl der (noch) junge Fabrizio, ein naiver Mann mit guten Verbindungen, im Prinzip mit Edelmut erfüllt, doch auch sehr Kind seines Standes. Es geht um seine Lebensgeschichte und die seiner Verwandten, um kleine Episoden und größere Wendungen. Das ganze ist in einem heiteren, leicht ironischen und durchaus kurzweiligen Stil geschrieben. Nach nur ein paar dutzend Seiten wird einem schon klar, warum vom 'schönsten' und nicht vom 'besten', 'gedankenreichsten' oder 'mitreißendsten' Roman gesprochen wurde. Er ist nett und angenehm geschrieben, führt einem durchaus auch die Adelsgesellschaft der Zeit vor (mit einem leichten Schuss Satire, mag ich hoffen). Ein Roman zum Nächte-durchlesen oder der einen tief bewegt scheint es jedoch nicht zu sein. So sind die Romane wie die Menschen verschieden [Stendhal 1842] und in all ihrer Unterschiedlichkeit haben sie jeweils ihren Wert. |
Eine profunde Wahrheit ist eine solche, deren Gegenteil ebenfalls wahr ist.
"Dass es ein Vergessen gibt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht." (Friedrich Nietzsche) |
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Do 24. Jan 2013, 10:53 - Beitrag #577 |
Jared Diamond hat mich auch ziemlich begeistert, "Arm und reich" und "Kollaps" habe ich sehr gern und mit Gewinn gelesen. Die Multiperspektivität und Vielfalt der einbezogenen Fachbereiche macht den besonderen Wert aus, wobei ich teilweise Wiederholungen etwas ermüdend fand (in Kollaps sind die Einzelkapitel teilweise wie seperate Studien zu lesen, die alle zu ähnlichen Ergebnissen kommen, die dann jeweils dargestellt werden^^). Die Beobachtungen waren mir aber komplett neu und ergeben ein rundes Bild. Hier scheint er stärker zu seinen Wurzeln als Biologe zurückzukehren (wovon allerdings auch in den anderen Büchern einiges zu merken ist, etwa was die Getreidesorten und Nutztierarten im Fruchtbaren Halbmond gegenüber den indigenen Pflanzen und Tieren Amerikas oder gar Australiens angeht) - spannend jedenfalls.
e-noon, Lust auf noch einen Kleist, den Kohlhasen vielleicht? ![]() Aktuell Terry Pratchett: Wyrd Sisters, dafür als Hintergrund Shakespeare: MacBeth Zuvor Petra Oelker: Drei Wünsche (2011) Etwas kitschige Weihnachtsgeschichte, angesiedelt in Hamburg im Jahr 1773, rund um den damals noch vorhandenen Dom. Hauptfigur ist eine Hausangestellte in kritischer Lage, entsprechend vielschichtig ihre (offenbar einigermaßen gründlich recherchierten) Einblicke in die Lebensverhältnisse von Unterschicht und gehobenem Bürgertum. Michael Ende: Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch (1989) (der sich, vorgelesen, fast genau in Echtzeit auf die Silvesternacht zwischen 17:00 und 0:00 anwenden läßt (mit ein paar Pausen, die man z.B. zum Essen nutzen kann), die Kapitel sind mit Uhrzeiten betitelt). - Hatte nicht mehr ganz im Blick, wie stark das Buch die 80er-Jahre-Sicht auf Umweltverschmutzung, Giftmüll etc. auslebt. Daniel Glattauer: Theo. Antworten aus dem Kinderzimmer (2010) Literarische 'Reportage' über den Neffen des Autors, dessen Aufwachsen geschildert wird. Den meisten Raum nimmt der etwa zwei- bis dreijährige Theo ein, dessen Interaktion mit seinen Eltern und dem Rest der Welt liebevoll und lustig berichtet wird. Später, mit wachsender Reife, hat Theo immer weniger Lust zu den "Interviews", und dreht schließlich den Spieß um. |
Die rechten Christen führen keinen Krieg - Jacob Böhme
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Di 29. Jan 2013, 12:15 - Beitrag #578 |
@Lykurg: Definitiv!
Den satanarblabla Wunschpunsch habe ich auch als sehr umweltpolitisch in Erinnerung ![]() Gerade gelesen: Alice Schwarzer - Der kleine Unterschied und seine großen Folgen. Ein äußerst wichtiges Werk in seiner Zeit, das viel Gutes bewirkt hat; wie alle erfolgreichen Bücher, die für Gleichberechtigung und Bürgerrechte kämpfen, hat es dabei mitgeholfen, sich selbst überflüssig zu machen. Man hat nichts verpasst, wenn man es nicht gelesen hat, denn unsere heutige Welt ist - zumindest für Matrixmitglieder, wie ich hoffe - weit darüber hinaus emanzipiert. Auch für die Männer ist das, wie Schwarzer damals prophezeite, von Vorteil; wer möchte schon in einem Klima der Gereiztheit wohnen, in dem man seiner Partnerin legal das Arbeiten verbietet (als Frau arbeiten zu gehen, war noch in den Siebzigern in der Ehe zustimmungspflichtig), damit sie einem nicht davonläuft? Zur Zeit: Ivan Turgenev - Faust. |
Meine Schwermut ist die treueste Geliebte, die ich je gehabt habe; was Wunder, daß ich sie wieder liebe.
Kierkegaard |
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Fr 1. Feb 2013, 12:10 - Beitrag #579 |
Ivan Turgenev - Ein Briefwechsel.
Gefiel mir etwas besser als sein Faust, auch wenn man das Gefühl hat, nach einer Geschichte die nächste vorhersehen zu können. Auch hier wieder schwärmerische junge Männer, sich wendend an Frauen, die darauf gerne eingehen würden, aber zunächst zögern. J.W. von Goethe: Egmont. Eigentlich hat mir Torquato Tasso mehr interessiert, aber es wird einem ja von klein auf anerzogen, ein Buch am Anfang anzufangen. Nun gut, es wird von vornherein als Trauerspiel bezeichnet, das nimmt dem Ganzen etwas die Spannung (denn was wird wohl in einem Trauerspiel mit den Hauptpersonen passieren? Na?), andererseits, wenn man geschichtlich gebildet wäre, wüsste man ja auch von vornherein, dass im Stück die Schwelle zum achtzigjährigen Krieg überschritten wird (da ich nicht geschichtlich gebildet bin, hätte ich das Stück ohne die Ankündigung "Trauerspiel" interessierter verfolgt). Der Anfang, wie auch die Passagen mit den Bürgern, hat mich einige Nerven gekostet, aber Egmont ist ein wirklich sympathischer Charakter - sofern man überhaupt von Charakteren sprechen kann in diesem Stück, das eigentlich keine Namen bräuchte, sondern mit "der edle, unbekümmerte, beliebte Graf", "seine treue Geliebte", "der böse, blutrünstige Spanier" ebenso gut bedient wäre. |
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Sa 9. Feb 2013, 05:53 - Beitrag #580 |
@e-noon: Der Torquato hat mich vor einigen Jahren, als ich ihn las, auch nicht gerade umgehauen...schöne Sprache, ein wenig Stimmung, aber wirklich berührt hat es mich nie.
Mir ist es das erste Mal seit längerer Zeit mal wieder passiert, dass ich ein Buch an ein oder zwei Tagen komplett durchgelesen habe. Es handelt sich hier um Chestertons The Man Who Was Thursday. Es trägt den Untertitel 'A Nightmare' und tatsächlich ist es ein etwas seltsames und leicht surreales Buch. Es lässt sich als eine Mischung aus Kriminalroman und Pamphlet gegen Anarchismus und Nihilismus beschreiben. Es ist spannend und gut geschrieben, gewürzt mit einigen gelungenen Wendungen. Bei dem traumhaften Ende kann ich mich noch nicht recht entscheiden, ob ich es unbefriedigend finden soll oder ob es den Gedanken des Buchs eine Stufe vertieft; vielleicht beides. |
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"Dass es ein Vergessen gibt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht." (Friedrich Nietzsche) |
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