@Padreic: Mir ist auch nicht ganz klar, ob Gattung, Tribus, Familie usw. in einer kladistischen Systematik überhaupt noch einen tieferen Sinn haben oder nur noch als Bequemlichkeit und Popularisierungshilfe relativ willkürlich als Klammern um verwandte Kladen eingefügt werden. Dass Menschen enger mit Schimpansen verwandt sind als beide mit Gorillas und wiederum die drei enger miteinander als mit Orangs und allen anderen Vettern, scheint aber auf jeden Fall eindeutig zu sein. In der Öffentlichkeit könnte durchaus noch ein Bild "Orangs; Gorillas und Schimpansen; Menschen" vorherrschen, daher ist Diamonds etwas unsauber-überspitzte Formulierung vermutlich sogar hilfreich. Formell retten könnte man sie sogar, indem man die Schimpansen-und-Menschen-Klade (in klassischer Nomenklatur wohl eine Unterunterfamilie oder ein Übertribus...?) einseitig nach Schimpansen benennt. Obwohl, nein, er spricht explizit von einer "dritten Art", oder? Naja, aber ich sehe ein, worauf er hinauswill.
Wiki-aside: "Panini" ist übrigens ein echt alberner Tribus-Name, klingt so brotig.
Ich frage mich ebenfalls, inwiefern sich die Biologie/Paläontologie schon ernsthaft mit der Frage auseinandergesetzt hat, wie sich Systematik im Zeitfluss aufrechterhalten lässt. Sowohl das klassische als auch noch das moderne kladistische System scheinen zeitlich instantane oder zumindest nur für kurze Zeit "belichtete" Schnappschüsse von Populationen vorauszusetzen. Sowohl für die quasi-instantane Gegenwart als auch für die ferne Vergangenheit (Dinosaurier etc.) mit ihren großen Unsicherheiten und spärlichen Funden funktioniert das ganz gut, aber für die junge Vergangenheit, beispielsweise die menschliche Stammesgeschichte, hat man ja durchaus den Fall, dass Artlebensdauern und Veränderungszeitschritte ähnlich groß sind.
Wiederum auf die Menschen(ähnlichen) bezogen, ist aber auch eindeutig, das über den Entwicklungszeitraum [Schimpanse-Mensch-Aufspaltung,Gegenwart] so viel morphologische und genetische Entwicklung vorliegt, dass dies im Vergleich zur Gegenwartsbiologie mehreren Arten und Gattungen entsprechen muss. Irgendwo muss man die dann auch einziehen.
Vielleicht wäre es ja ein hilfreiches System, Arten mit "Fehlerbalken" anzugeben, also statt des Erstfundes ein zeitlich wie morphologisch (und, wo machbar, wie genetisch) möglichst zentrales Typusexemplar zu finden und dann weitere Exemplare als "im 2-Sigma-Außenbereich von Homo erectus" zu katalogisieren. Natürlich könnten sich dann zwei Arten auch überschneiden. (Vielleicht wird es in der Fachliteratur sogar schon ähnlich praktiziert?)
@Maglor: Die genetische Ähnlichkeit ist durchaus entscheidend, nur sind die gerne zitierten Prozentzahlen wenig aussagekräftig. Tatsächlich wird in genetisch-phyologenetischen Studien keine solche numerische Gesamtähnlichkeit ausgezählt, sondern es werden die Variationen in Schlüsselgenen katalogisiert und sortiert.
Der Unterschied zwischen Paläontologie und Gegenwartsbiologie ist nur ein methodischer, kein konzeptioneller, bedingt durch die unterschiedlichen Datenlagen. Aber schon lange werden auch morphologische Fossilienstudien für die Klassifikation lebender Arten eingesetzt. Und umgekehrt gibt es schon ein paar genetische Studien über ausgestorbene Arten - natürlich nur für relativ rezente, damit aber gerade auch in der uns hier interessierenden Paläoanthropologie. (Zur Problematik der Abgrenzung im Zeitkontinuum s.o., aber praktisch gesehen leben sie mit der "Schnappschuss-Methode" bisher ganz gut.)
Deren drittes, sie von sonstiger Paläontologie unterscheidendes Standbein, die Archäologie und Kulturgeschichte, macht die Sache tatsächlich nochmal komplizierter, da wird in den letzten Jahrzehnten aber auch deutlich weniger naiv mit umgegangen als früher. Es ist halt nur ein Forschungsgebiet im Fluss, die Einstufung von habilis und rudolfensis als Homo oder Australopithecus oder als Extra-Gattung ist z.B. aktiv in Diskussion.
Das ist aber ein evolutionär deutlich später angesiedeltes Kampfgebiet als die Schimpansen-Mensch-Frage, für die die Fundsituation schlechter ist, man sich aber immerhin nicht mit Kulturgedöns auseinandersetzen muss, sondern reine Phylogenetik betreiben kann.
@Ipsissimus: Deine beiden Kriterien beziehen sich nicht konkret auf die Hierarchiestufe "Gattung", sondern auf jede hierarchische Stufe oberhalb der Art. Kriterium 2 ist dabei das alte, Kriterium 1 das moderne kladistische (s.o.), für das Morphologie, Genetik und Fossilienlage alle nur noch Zuträger sind.