Ausnahmezustand

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
Maglor
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Fr 12. Nov 2010, 20:16 - Beitrag #21

Raub ist Diebstahl unter Gewaltanwendung oder wenigstens Androhung, das geht dann bis zum Raubmord. Wenn ein Serieneinbrecher auf frischer Tat ertappt wird und den Eigentümer ermordet, wird deutlich wie leicht aus einem Eigentumsdelikt einen Kapitalverbrechen wird.
Eine Grenzziehung zwischen Dieben, Räubern und Mördernschwierig, hängt z. B. davon ab ob und wie ein Einbrecher erwischt wird. Wer beim Taschendiebstahl geschickt vorgeht, braucht die Oma auch nicht zu schlagen um die Handtasche zu an sich zu reißen. Darum sind ja auch geschickte Taschendiebe weniger gefährlich als ungeschickte Grobiane. ;)

Zitat von Padreic:Die Frage ist nur, was tun, wenn die Therapie nicht hilft?

Tja, das werden wir vielleicht demnächst erfahren. Im Falle der Sicherungsverwahrung ist es ja so, dass die Therapie und Resozialisierung schlicht und ergreifend aufgegeben wurde. Das spart zumindest kurzfristig Kosten, denn ein Gefängnisaufenthalt ohne ständige psychiatrische, soziologische etc. Betreuung ist natürlich deutlich kostengünstiger, schlichte Methadongaben kostengünstiger als den Stundenlohn eines Therapeuten.
Tatsächlich wird ja min. alle 2 Jahre geprüft, ob der Sicherungsverwahrte Fortschritte gemacht hat und eine Freilassung möglich ist. Die Frage ist nur, ob sich der Gefangene ohne Förderung überhaupt weiter entwickeln kann - ob die bisherige Praxis der Sicherungsverwahrung als "Maßregel der Besserung und Sicherung" eine Besserung des Gefangenen nicht von vornherein ausschließt?

Noch mal grundsätzlich:
Sicherungsverwahrung ist nichts anderes als "Schutzhaft". Personen werden verhaftet, um Straftaten zu verhindern, werden praktisch bestraft für Straftaten, die sie (noch) nicht begangen haben.
Hier wäre dann zu prüfen, ob sich eine freiheitliche Gesellschaft nicht gewisse Risiken mit sich bringt, ob man Menschen wegen Wahrscheinlichkeiten für immer festhalten kann.
Klar ist eines, die Sicherungsverwarnung eckt mit den Prinzipien des Rechtsstaates an.

Der BGH bringt wieder neues im Streit zwischen deutscher und europäischer Justiz:
Süddeutssce Zeitung
1998 wurde die bis dato auf Zehn Jahre beschränkte Sicherungsverwahrung auf praktisch "für immer" verlängert. Die Sicherungsverwahrung von Gefangenen, die zu Zeiten 10-jähriger Sicherungsverwahrung verurteilt wurden, wurde einfach verlängert.
Die Europäer halten die Sicherungsverwahrung für eine Strafe, die in den Fällen einfach rückwirkend verlängert wurde, und daher dem Grundsatz "Keine Strafe ohne Gesetz " widerspricht.
Der BGH widersetzt sich der Umsetzung der Freilassung der ohne rechtsstaatliche Grundlage inhaftierten Gefangenen, die noch vor 1998 zu Zeiten lediglich zehnjähriger Sicherungsverwahrung verurteilt wurden, wenn "hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen" bestehe. (Das zeigt schon die Fraglichkeit der der Regelung: Welche Berechtigung hätte eine Sicherungsverwahrung, wenn eben keine große Gefahr schwerster Verbrechen besteht, sondern nur geringes Risiko, eine Wahrscheinlichkeit ebensocher oder möglicherweise auch nur ein Risiko minderschwerer Taten vermutet wird, was bei einem Teil Gefangenen offenbar der Fall ist?)
Eine abschließende Entscheidung wurde nicht getroffen. Es herrscht Uneinigkeit unter den Richtern. Besonders entscheidungsfreudig scheint bei der Sache niemand, dabei ist doch eine ungesetzmäßige Vollstreckung der Sicherheitsverwahrung nach § 345 StGB nichts anderes als eine Straftat.

009
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So 9. Jan 2011, 01:49 - Beitrag #22

Zur Frage, warum im Zweifel immer doch Sicherungsverfahrung, basierend auf entsprechenden psychologischen Gutachten, verhängt wird, finde ich diesen FAZ-Artikel erhellend.

janw
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So 23. Jan 2011, 22:16 - Beitrag #23

Maglor, das ist mal so ein Fall, in dem Du Dich so eindeutig unmißverständlich äußerst, wie ich Dir nur zustimmen kann^^
Wie auch Ipsi, was das besorgte Betrachten der Erosion der rechtsstatlichen Werte betrifft.

Es wirft schon ein sehr deutliches Licht auf den Staat, wenn das Verfassungericht serienmäßig Gesetze kassiert, weil diese gegen Grundrechte verstoßen - und wenn dann der Eu-GH in gleicher Richtung noch dem Bundesverfassungsgericht Beine machen muss.

Wie jetzt gerade hinsichtlich der EU-Asylpolitik.

Zeitgleich haben die Medien nichts besseres zu tun, als die allgemeinen Lebensrisiken durch frei laufende Menschen zu Horrorszenarien zu gestalten.

009
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So 23. Jan 2011, 23:27 - Beitrag #24

Aber dafür kriegen wir hier offenbar hin, woran die Medien teils scheitern, wie diverse hier verlinkte Beiträge im Bildblog zeigen: den EGMR von einem reinen EU-Gericht zu unterscheiden.
Oder?
Nach Blick in die diversen Beiträge und Erklärungen im Bildblog bin ich jetzt irgendwie sehr europäisch verwirrt.

Maglor
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Mi 11. Mai 2011, 21:20 - Beitrag #25

Am 4. Mai 2011 hat das Bundesverfassungsgericht die Sicherheitsverwahrung als Gesamtkunstwerk für verfassungswidrig erklärt. Bis 2013 hat der Bundestag Zeit die Sache im Sinne der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte von Grund auf neu zu regeln.
Verfassungswidrig in Gefängnissen zur Besserung und Sicherung verwahrte bleiben bis auf weiteres ebenda: im Knast

Um 009 vorwegzunehmen:
BILD
Sicherungsverwahrung verfassungswidrig
500 Mörder und Sex-Bestien warten auf Freilassung
Kosten in Millionenhöhe +++ Überprüfung problematisch


Skandalös: Nun muss doch tatsächlich überprüft werden, ob die Verwahrten gefährlich sind oder nicht - man sollte man, dass sei selbstverständlich.
Besonders fehl am Platz scheint mir die Formulierung "Urteil mit ungeahnten Auswirkungen" als Bezeichnung für das Urteil des BVerG, eigentlich trifft diese Umschreibung ja viel eher auf die dubiosen strafrechtlichen Urteile mit nachträglicher oder nächträglich auf unbeschränkte Zeit verlängerte Sicherheitsverwahrung zu. Nach Verkündung des Urteils wusste niemand, ja wirklich niemand, ob der Verurteilte für immer hinter Gittern bleiben muss. Das ist glaube ich eine ungeahnte Auswirkung.

009
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Mo 16. Mai 2011, 09:31 - Beitrag #26

Mit Dank an Maglor für diese Arbeitserleichterung kann ich mich drauf beschräünken, den Artikel "Wegsperren und vergessen" hat keine Zukunft aus dem lawblog von RA Ude Vetter zu verlinken, da ich den ebenfalls informativ und gut geschrieben finde und die Meinungen dort, insbesonders die zur angemahnten Änderung der Vollzugspraxis, teile.

janw
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Do 4. Aug 2011, 18:49 - Beitrag #27

Mittlerweile spitzt sich die Frage zu, wie die Sicherungsverwahrung gestaltet werden sollte: In Celle sind fünf Sicherungsverwahrte in eine Hungerstreik getreten, zu ihren Forderungen zählen barrierefreier Internetzugang, Sky und Damenbesuche.
http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/Busemann-kritisiert-Hungerstreik
Der zuständige Justizminister Busemann dazu:
Nicht nur mir, sondern wahrscheinlich auch dem Normalbürger fällt da ein bisschen die Kinnlade runter.


Ich frage mich, wie er seine Haltung begründen will, freier Medienkonsum stellt IMHO ein Grundrecht dar, und das Internet ist als ein Medium anzusehen. Natürlich mögen Sicherheitsbedenken bestehen, aber sie dürfen IMHO nicht der Anforderung entgege stehen, im Grunde eine Teilhabe an der Welt zu gestalten, von der die Verwahrten nur hinsichtlich direkter Kontakte getrennt sind. Ebenso die Frage der Damenbesuche - ist Sexualität nicht ein menschliches Grundbedürfnis?

Ipsissimus
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Do 28. Mär 2013, 17:10 - Beitrag #28

das Spiel geht weiter, und so langsam bekommen wohl selbst Juristen Probleme mit der Frage, wie verfassungstreu deutsche Juristen sind. Hauptsache, auf dem Schild an der Zellentür steht jetzt "Zimmer".

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/sicherungsverwahrung-der-fall-walter-h-aus-saarbruecken-a-890971.html

Maglor
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Do 28. Mär 2013, 20:37 - Beitrag #29

Die Umetikettierung hat doch System und Tradition.
Jahrzehntelang wurden ja Sicherverwahrte in Gefängnissen untergebracht, nur in eigenen Fluren unter räumlicher Trennung von den Strafgefangen. Bei den Sicherungsverwahrten handelt es sich jedoch nicht mehr um Gefangene, die eine Strafhaft absitzen.
In Berlin wird derzeit geprüft, ob man statt einer unbeschrifteter Zelle künftig zwei Zimmer zur Verfügung stellt.
Morgenpost
Heilmann hatte bereits im Februar in einem dpa-Gespräch betont, Berlin wolle für solche Straftäter ein extra Haus bauen. Es solle auf einer Freifläche des deutschlandweit größten Männergefängnisses in Tegel errichtet werden soll. Derzeit sitzen 38 Sicherungsverwahrte in einem extra Trakt des Tegeler Gefängnisses. Etliche beklagen, dass sie in zu kleinen Zellen untergebracht sind und wenig betreut werden.

janw
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Fr 29. Mär 2013, 12:21 - Beitrag #30

Ipsi, bei so einer überlangen Bearbeitungsdauer des Verfahrens müsste es doch eigentlich die Möglichkeit eines Eilantrags auf einstweilige Aussetzung der Unterbringung geben, notfalls beim EU-GH oder EUMGR, oder nicht?

Ipsissimus
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Sa 30. Mär 2013, 19:29 - Beitrag #31

Anscheinend nicht. Aber ich bin kein Jurist^^

Maglor
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Sa 30. Mär 2013, 22:01 - Beitrag #32

In dem Fall heißt es eben, dass Ungnade vor Recht ergeht.
Es gibt seitens der politischen Führung das klare Signal, dass diese Leute nie mehr auf freien Fuß kommen und jeden Preis der Rechtsstaatlichkeit eingesperrt bleiben - egal wo und egal, was es kostet.
Es ist schon beschämend, wenn man bedenkt, wie alt diese Verwahrten teilweise.

Viele der Verwahrten haben ja schon das Greisenalter erreicht - nach nur einmal "lebenslänglich". Sind sie wirklich noch eine o große Gefahr, wenn sie mit ihren Rollstühlen freigelassen werden würden?

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