Welches Buch lest ihr gerade? (II)

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Ipsissimus
Dämmerung
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Fr 8. Nov 2013, 14:37 - Beitrag #661

(Henri) Alain-Fournier
(eigentlich Henri-Alban Fournier)
Der große Meaulnes

Original Le Grand Meaulnes
Fünfteiliger Fortsetzungsroman in La Nouvelle Revue Française, 1913

gelesene Ausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013
Otfried Schulze, Cornelia Hasting (Übersetzer)

Der zwischen 1912 und 1913 unter desolaten persönlichen Verhältnissen entstandene Roman Le Grand Meaulnes ist neben dem Romanfragment Colombe Blanchet (1914), dem Gedichtband Miracles, dem Essay Le Corps de la femme (1907) und einigen literaturkritischen Feuilleton-Artikeln das einzige literarische Erzeugnis des Autors Henri Alban-Fournier, der kurz nach der Fertigstellung in den ersten Wochen des ersten Weltkriegs als Soldat während einer Patrouille südlich von Verdun, gerade mal 30jährig, ums Leben kam.

Der Roman begründete den praktisch sofort einsetzenden Weltruhm des Autors, der sich damit in die erste Riege eines Joyce oder Musil hineingeschrieben hatte. Nichtsdestotrotz dürften Le Grand Meaulnes und Fournier als große Unbekannte der Literatur des 20ten Jahrhunderts gelten; ich muss jedenfalls zu meiner Beschämung gestehen, dass ich von der Existenz des Verfassers und des Romans erst zufällig vor ein paar Tagen erfuhr, als ich über ein kurzes Feuilleton zum 100jährigen Geburtstag des Romans stolperte.

Der Roman kommt märchenhaft verträumt daher; alle seine Handlungselemente, Personen und Orte liegen hinter einem Schleier aus Melancholie und Traumhaftigkeit. Im Zentrum steht die große, aber tragische Liebe, mit Bezügen zu dem verworrenen Lebenslauf Fourniers, so dass die Brüche und Irrwege der Handlung einen autobiographischen Hintergrund aufweisen, ohne dass dies überstrapaziert werden muss: Fournier durchlebte als 19jähriger eine unerwiderte und unerfüllte, aber in der Retrospektive gerade deswegen wohl unmäßig überhöhte Verliebtheit, und auch für die letzte tragische Wendung des Romans, die Hingabe an eine andere, aber ungeliebte Frau gibt es eine Parallele in Fourniers Leben.

Das Sujet ist also tragisch aber trivial, typische Spätromantik; die intrigante psychologische Entwicklung, die den Roman vollständig durchzieht und den melancholischen Schleier immer wieder aufreißt, lässt aber zu keinem Moment den Eindruck von Trivialität aufkommen und entspricht viel mehr einer Haltung, die erst im Expressionismus zu voller Schärfe und Blüte kommt. Aus dieser Konfrontation

    eines mehr oder weniger trivialen Gesellschaftsromanen der Zeit adäquaten Handlungsverlaufes - mit Prinz und Prinzessin, armen Studenten, Finden und Verlieren, die große Suche, das rauschende Fest im Landschloss, das Stadthaus in Paris, Liebe und Liebesleid, verschneite Winterlandschaften und erquickende Frühlinge -

    mit einem extrem scharfsinnigen und praktisch mitleidslosen Blick für den psychologischen Gehalt einer Situation
vermittelt der Roman in beinahe jeder einzelnen Situation den Eindruck einer nahezu unerträglichen, zu ahnenden, aber nicht zu fassenden Abgründigkeit, die den Leser in ihren Bann zieht. Und die später so beliebt werdende Dialektik des durch die Nacht ans Licht bleibt hier noch sehr, sehr dunkel. Ein Happy End sieht anders aus.

Ipsissimus
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Di 12. Nov 2013, 13:25 - Beitrag #662

Karel G. van Loon
Lisas Atem

Kiepenheuer, 2002

»Macht es dir etwas aus?« »Nein, macht mir nichts aus. Dir?« »Ja. Ja, ich glaube schon.« Er zuckt mit den Schultern. Sie hat sich etwas nach vorn gebeugt und schaut ihm ins Gesicht. Er sieht nicht weg. Noch nicht. Er ist sich dessen nicht bewußt, sie schon: es gelingt ihm, immer länger nicht wegzublicken, wenn sie ihn anschaut. Er will das Thema wechseln, doch sie kommt ihm zuvor. »Woran denkst du, wenn du nicht schlafen kannst, nachts im Bett?« »Ich kann immer schlafen.« »Glaube ich nicht.« »Ist auch nicht wahr. Woran ich denke? Ha!« »Nun?« »An dich.« »Und schläfst du dann ein oder gerade nicht?« Er schaut aus dem Fenster, dann flüchtig zu ihr. Aber er antwortet nicht. »Warum willst du das alles wissen?« »Willst du solche Dinge nicht wissen? Von mir?« »Nein. Ja. Nein!« »Warum nicht?« »Warum nicht?« Er seufzt. Sie wartet. Ihre Augen lassen ihn nicht los. Er schaut wieder aus dem Fenster. Seine Finger brechen kleine Stückchen von einem Bierdeckel ab, auf den er zuvor ein Gedicht für sie geschrieben hatte. Er sagt: »Ich will dich nichts fragen. Ich will dich ansehen, stundenlang.« »Warum blickst du dann immer weg, wenn ich dich ansehe?« »Ich schau dich am liebsten an, wenn du es nicht merkst.« »Warum?« »Dann gibst du am meisten preis.« »Und was?« Er bleibt sehr lange still. Der Bierdeckel liegt in kleinen Stücken auf dem persischen Tischläufer. Schließlich sagt er: »Dafür gibt es keine Worte. Das ist es ja gerade. Darum ist das auch nichts, wonach ich dich fragen könnte. Du würdest selbst auch keine Worte dafür finden. Für die meisten Dinge, die wir wissen, gibt es keine richtigen Worte. Wenn ich morgens aufwache, weiß ich sofort, wie ich mich fühle, aber ich könnte es unmöglich beschreiben. Und wenn ich dich sehe ...«Jetzt schaut er sie an, länger, als er es je getan hat, diesmal schaut sie als erste weg. »Wie sollte ich«, fährt er fort, »sagen können, was ich dann sehe?«

Lisa, 17jährig, fährt mit ihrer Mutter Sophie und ihrem Stiefvater in Urlaub, geht ins Meer und kommt nicht wieder. "Unfall oder Selbstmord" verfügen die untersuchenden Beamten, und "die Strömung ist stark hier, sie wird vermutlich weit weggetragen und nicht wieder auftauchen". Sophies Ehe wird daran zerbrechen. Und dann ist da noch Talm, Lisas gleichaltriger Freund, der feststellt, wie wenig er von Lisa wusste und sich daran macht, ihr Leben zu rekonstruieren, ein Unterfangen, das ihn zu einem Knoten aus Finsternis führen wird. Und Sophie wird zuletzt entscheiden müssen, ob sie Talms Geliebte und Frau werden will, weil er als einziger noch Lisas Atem in sich trägt, und sie die einzige ist, die ihn bewahren kann.

Von allem ein wenig, bitter-süßer Liebesroman, Krimi, Entwicklungsroman, Milieuzeichnung, soziologische Studie, Psychothriller, aber alles dies zu einer Einheit geformt, die ihre Teile vergessen macht. Völlig faszinierend.

Milena
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Do 14. Nov 2013, 14:35 - Beitrag #663

Buch der Sehnsüchte
Leonard Cohen

zum grössten teil von ihm während seines 5jährigen aufenthaltes in einem zen-buddhistischen kloster
in kalifornien geschrieben....
in einem interview wurde er gefragt, ob er mit seinem schreiben und seinen gedichten zufrieden ist mit dem erfolg, der sich einstellte. er meinte, dass er vor 20 jahren ca 500 bücher verkauft hatte und jetzt millionenfach und es sich so wohl kaum als erfolg bzgl des schreibens definieren lässt...
er ist halt unser grosser sänger geworden ;)

Traitor
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Do 14. Nov 2013, 16:29 - Beitrag #664

@Milena: Das Buch ist meines Erachtens eine etwas obskure Mischung - eigentliche Gedichte, Liedtexte, Mini-Zeichnungen mit noch kleinerem Textkommentar... Aber wie auch bei seinen vielen verschiedenen Liedstilen passt doch alles irgendwie zusammen. Schön, dass es in dir eine weitere Leserin gefunden hat.

Die deutsche Übersetzung erscheint mir vom Blick auf die 2 Auszüge bei Amazon ("Buch der Sehnsüchte" / "The book of longing", "Genug geliebt" / "You have loved enough") aber etwas zweifelhaft. Immerhin keine sklavische Wort-für-Wort-Übersetzung, womit Gedichte natürlich zerstört werden. Aber im Gegenteil für meinen Geschmack schon zu frei. Teilweise ist mir sogar im Deutschen die Bedeutung weniger klar als im Englischen, was wohl etwas heißen will...:
"Die Tür weit offen
Ewig von wegen"
vs.
"The endless suspended
The door open wide"
Soll "Ewig von wegen" eine, der sonstigen Textform entsprechend, zeichensetzungsbereinigte Form von "'Ewig' - von wegen!" sein? Demgegenüber ist "das Endlose ausgesetzt/aufgeschoben" doch deutlich klarer.
Oder hier ein Fall, in dem die Originalmetapher leider komplett aufgegeben wurde:
"Was flüstert die Nacht
Ist am Tag dahin"
vs.
"The day wouldn't write
What the night pencilled in"
was natürlich ganz andere Beiklänge von künstlerischer Selbstreflektion hat.
Das zweite ist zudem im Original teilgereimt, bei ihm eher ungewöhnlich, das ging verloren.

Selbst, nach endlich erfolgtem Abschluss zumindest des ersten "Wächters":
Orson Scott Card - Childen of the Mind
Fängt zumindest schonmal unmittelbarer an als Band 2+3, da kein ganz neuer Figurensatz eingeführt werden muss. Ob das Wegfallen der echten existentiellen Probleme aus "Xenocide" der Spannungskurve zu sehr schadet oder doch noch eine eigenständige auftaucht, mal sehen.

Ipsissimus
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Do 14. Nov 2013, 17:51 - Beitrag #665

Cohen ist auch nach 40 Jahren immer wieder eine Entdeckung :-)

Ipsissimus
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Mi 27. Nov 2013, 17:59 - Beitrag #666

Jennifer Egan
A Visit from the Goon Squad

Knopf, 2010

gelesenene Ausgabe:
Schöffling & Co., 5. Auflage, 2013
Der größere Teil der Welt

Ein Roman in vielen kurzen Geschichten - aber keine Kurzgeschichtensammlung - und zeitlichen, nichtchronologischen Sprüngen zwischen etwa den 1960er Jahren und 2025, um eine Gruppe von etwa einem Dutzend Menschen, alle lose verknüpft durch ihre Zugehörigkeit zur amerikanischen Künstlerszene, vor allem zur Musikszene. In dieser Gruppe wiederum lose zentriert um Bennie, den untalentiertesten Punkbassisten, der je versuchte, sein Geld mit Musik zu verdienen, und Sasha, seiner kleptomanischen Jugendfreundin und späteren Assistentin, die beide in vielen der Geschichten auftauchen, auf die die Dinge immer wieder hinauszulaufen scheinen, ohne es wirklich zu tun.

Die Geschichte folgt den kleineren und größeren Katastrophen, von denen die Lebensverläufe der Protagonisten begleitet werden, erzählt auch öfter dieselben Vorkommnisse aus unterschiedlichen Perspektiven. Es geht um Bennys Aufstieg vom erfolglosen Musiker zum mächtigen und einflussreichen Musikmanager, um Sashas widerwilligen Kampf gegen die Kleptomanie (der sie sich viel lieber genussvoll hingeben möchte), um Liebe und Verrat im Freundeskreis, und später auch um den professionellen Verrat an musikalischen Idealen, der im letzten Kapitel seinem Höhepunkt zugeführt wird.

Eine klare Leseempfehlung für Leute, die anspruchsvolle moderne Literatur suchen. Egan ist aus meiner Sicht klar auf Nobelpreis-Kurs. Den Pulitzer hat sie 2011 für Der größere Teil der Welt bereits erhalten. Ein atemberaubendes Stück Literatur.

Padreic
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Do 28. Nov 2013, 04:55 - Beitrag #667

Als Nachtrag: Ich schrieb, dass Clarke's Childhood's End mir am Ende zur extrem wurde - in der Retrospektive finde ich das Ende durchaus gelungen, nur emotional unangenehm. Gestern fertiggelesen:

Wuthering Heights von Emily Brontë
Viktorianischer Roman. Es werden die verwobenen Lebensgeschichten einiger Personen in Yorkshire erzählt, voller Grausamkeit, Leid, Liebe und ein wenig Glück. Drei Dinge sind hervorzuheben:
1) Die Erzählsituation: Der Roman ist aus der Ich-Perspektive eines Herrn Lockwoods geschrieben, der ein Anwesen im Besitz Heathcliffs (der Hauptperson, mag man sagen) mietet. Er stattet Heathcliff einen Besuch ab, ist von dessen menschenscheuen und unfreundlichen Art angezogen, stattet ihm einen zweiten Besuch ab und fühlt sich von der dortigen häuslichen Situation verängstigt, fasziniert und abgestoßen. Es stellt sich heraus, dass seine Haushälterin Nelly ihr ganzes Leben mit den Figuren dieses Haushalts verbracht hat und er bittet sie zu erzählen, wer diese Leute sind und was sie gemacht haben. Ihre Erzählung bildet den Hauptteil des Buches und hat in erzählter Zeit viele Jahre. Durch die verschachtelte Erzählsituation weiß man in recht unbestimmter Weise schon wie ihre Erzählung ausgehen wird, was zusätzlich Reiz und Spannung bereitet.
2) Die Charaktere sind allesamt faszinierend und nicht nach dem Reißbrett gestaltet. Sie leben, sie atmen, sie haben mindestens drei Dimensionen. Kein Vergleich beispielsweise mit den Tributen von Panem, die ich mir neulich zugeführt habe (obgleich ich sie auch genossen habe).
3) Für einen Klassiker ist es eminent lesbar und spannend -- kein Schleppen von einem Kapitel zum nächsten. Einziger Abstrich zur Lesbarkeit: Eine wichtige Figur spricht in einem recht starken Dialekt. Das meiste kann man verstehen, aber eben nur das meiste. Dialekt und Sprachwahl sind aber natürlich wichtig zur sozialen Differenzierung und Atmosphäre.

Ipsissimus
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Fr 29. Nov 2013, 11:25 - Beitrag #668

Svetlana Sekulic
Wohin ist mein Land

Kindle ebook

Eine Art Sozialstudie, aufgrund des Detailreichtums vermutlich auf Grundlage eigener Erlebnisse: Die Autorin berichtet über Erfahrungen und Erlebnisse aus der Perspektive einer bereits als Baby nach Deutschland gekommenen Immigrantin, die immer wieder erkennen muss, wie schwierig es ist, in Deutschland heimisch zu werden. Sie erlebt subtile Formen von Ausgrenzungen und Zurücksetzungen, und dabei sind es noch nicht einmal die "offiziellen" Schikanen, die Herablassung, mit der sie auf Ämtern behandelt wird, die im besonderen Maße wehtun: Vielmehr zeigt sich gerade im privaten und beruflichen Umfeld, wie schwierig es vielen Deutschen fällt, in der gemutmaßten Ausländerin - die Protagonistin ist längst im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft - den Menschen zu sehen, wenn der Name doch so ausländisch klingt.

Es sind herzzerreißende Geschichten darunter, die einen Zeitraum von etwa 30 Jahren abdecken, Geschichten, bei denen man ob der unterschwelligen Bösartigkeit, die der Protagonistin widerfährt, vor Wut schreien möchte, aber auch Geschichten voller Komik und vor allem: Geschichten voller Missverständnisse. Die Protagonistin baut eine tiefe Sehnsucht nach ihrem Heimatland Serbien auf, das sie jedoch nur noch aus einem Urlaub als junges Mädchen kennt, und in dieser Sehnsucht bleibt sie innerlich zerrissen, weder hier noch dort scheint Heimat möglich.

Das Büchlein lässt sich recht schnell durchlesen, es verfügt durchaus über eigenen literarischen Charm, auch wenn die sprachliche Form klar dem Inhalt nachgeordnet ist. Wer sich für die eher verhangenen Seiten deutscher Gastlichkeit interessiert, wer der Frage nachgeht, welchen psychologischen Zumutungen Immigranten im Grunde überflüssigerweise ausgesetzt werden, wird dazu durchaus pointierte Beobachtungen finden.

/edit: eine überarbeitete und umfangreichere Version ist unter dem Titel "Erhabenheit du meine" ebenfalls als Kindle-ebook erhältlich

Traitor
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So 22. Dez 2013, 23:49 - Beitrag #669

Christoph Ransmayr - Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Hier von Padreic und Lykurg schon ausführlich gewürdigt. Bisher nur ein gutes Drittel gelesen. Die Payer-Weyprecht-Teile faszinieren mich ähnlich stark wie die Vorleser, mit Mazzini tue ich mich noch etwas schwer, dem fehlt es (noch) an eigenständiger Charakterisierung und Relevanz.

Ephraim Kishon und Kariel Gardosh ("Dosh") - Pardon, wir haben gewonnen
Sammlung von Kolumnen (Kishon) und Karikaturen (Dosh) zu den israelisch-arabischen Kriegen 1956 und 1967. Humoristisch oft brilliant, politisch-historisch dagegen schwer einzuordnen. Einerseits ist es sehr interessant, die israelische Innenperspektive aus einigermaßen reflektierter Feder zu erfahren; andererseits ist zumindest der zu Papier gebrachte Reflektionsgrad dann doch eher begrenzt und die Borniertheit, die den Konflikt bis heute perpetuiert, sehr gut erkennbar. Kishon analysiert sehr scharf die politischen, diplomatischen und massenpsychologischen Mechanismen, aber letztlich doch unter der unhinterfragbaren Prämisse, dass seine Seite unumschränkt im Recht sei.

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Do 9. Jan 2014, 12:53 - Beitrag #670

Veronica Roth
Die Bestimmung

zwei Bände, Kindle Edition, Band 3 auf deutsch noch nicht erschienen

In einer unbestimmt fernen Zukunft hat sich die Gesellschaft einer vollkommen von ihrer Umgebung abgeschnittenen Stadt in fünf Fraktionen aufgespalten. Jede der Fraktionen ist über eine bestimmte Charaktereigenschaft, die zugleich Wertvostellung ist, definiert: Altruan sind selbstlos, Amite sind friedliebend, Cantor sind wahrheitsliebend, Ferox sind mutig und Ken sind wissensdurstig. Junge Menschen werden bis zu ihrem 16ten Lebensjahr in ihrer Herkunftsfraktion erzogen, erhalten aber parallel Unterricht in den Werten und Vorstellungen aller Fraktionen. Im 16ten Lebensjahr findet ein Eignungstest - das Fest der Bestimmung - statt, mit dem geklärt wird, für welche Fraktion der hoffnungsvolle Nachwuchs geeignet ist. Danach können sich die Teilnehmer entscheiden, zu welcher Fraktion sie zukünftig gehören wollen, wobei sie in ihrer Wahl nicht an das Ergebnis des Eignungstests gebunden sind. Üblicherweise bleiben gut 90% bei ihrer Geburtsfraktion, der Rest wechselt.

Dann gibt es noch die Unbestimmten. Bei ihnen weist der Eignungstest nach, dass sie charakterlich für zwei unterschiedliche Fraktionen geeignet sind. Unbestimmte gelten - aus für den Leser zunächst völlig unerfindlichen Gründen - als böse und müssen sofort getötet werden. Praktisch entkommen aber einige, weil ihre Prüfer auch nur Menschen sind, die gelegentlich Mitleid empfinden, und den Unbestimmten ihre Bösartigkeit nicht ins Gesicht geschrieben steht.

In ihren neuen Fraktionen müssen die Fraktionswechsler sich Aufnahmevorbereitungen und -tests unterziehen. Wer dabei nicht besteht, wird ausgesoßen, gilt fortan als fraktionslos und darf in den Slums der Stadt als Bettler sein Leben fristen. Faktisch bilden die Fraktionslosen eine eigene sechste Fraktion, was aber anfangs auch nicht so deutlich ist.

Die Protagonistin der Geschichte ist eine Altruan, die zu den Ferox wechselt. Natürlich ist sie eine Unbestimmte. Das wäre noch zu ertragen. Leider ist sie mit ihren 16 Jahren aber anscheinend in der Präpubertät hängengeblieben, und da sie zugleich die Ich-Erzählerin der Geschichte ist, wird man das ab der ersten Seite praktisch jedem Dialog, jedem inneren Monolog und jeder Situationsbeschreibung anmerken. Bedauerlicherweise ist sie vom Konzept der Geschichte her als Weltenretterin angelegt. Und bedauerlicherweise ist die Geschichte im guten, alten durch die Nacht zum Licht-Stil angelegt. Das heißt, wir haben hier den Fall, dass ein junger Mensch, der seine permutierenden Gefühle noch für den Nabel der Welt hält, erleben darf, dass seine Wutausbrüche, seine depressiven Schübe, seine für die Situation völlig irrelevanten Befindlichkeiten und seine Missverständnisse zu kolossaler, menschen- und strukturenrettender Bedeutung aufgebläht werden. Die Geschichte folgt daher auch dem Muster "unsicher - erröt - schrei - Intrige - kreisch - brüt - todesverachtende Aktion - Schuldgefühl - abgrundtiefe Verzweiflung - er liebt mich nicht", in endloser Wiederholung. Unerträglich, weil ohne den geringsten Abstand zur Gefühlslage verfasst.

Wollte ich es positiv darstellen, könnte ich vielleicht die New York Times-Darstellung übernehmen: »"Die Bestimmung" bietet Nervenkitzel, erforscht aber zugleich auf bewegende Art die typischen Ängste Jugendlicher: die schmerzliche Erfahrung, dass sich selbst finden zugleich bedeuten mag, dass man seine Familie verlassen muss. Ein handlungsreicher, bildhafter Roman, … der sich dem Thema Konformitätszwang annimmt und die Selbstgewissheit engstirniger Ideologien in Frage stellt.«

Leute, ich kann euch nur warnen, glaub der NYT nicht, oder tut es auf eigenes Risiko.

Die Geschichte selbst, na ja, eine Dystopie halt. Sehr schnell gibt es Risse in der heilen Welt der Fraktionen, vor allem Ken und Altruan haben sich nicht wirklich lieb. Einige Dutzend Tote und mehrere kriegerische Auseinandersetzungen später erfährt man gegen Ende des 2ten Bandes, wieso die Unbestimmten böse sind, wieso sie nicht böse sind, warum es die Fraktionen überhaupt gibt und was das ganze soll.

Gut, wirklich deutlich nachvollziehbar ist nichts davon, der Plot ist zimlich abstrus dahingeworfen. Aber wer sich von den Tributen von Panem gut unterhalten fühlte, könnte u.U. auch hier seinen Spaß haben, zumindest wenn die Anstrengung aufgebracht wird, über jeden Menge pubertären Klamauk hinwegzulesen.

Traitor
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Do 9. Jan 2014, 13:41 - Beitrag #671

Danke für die Warnung - vom Buch hatte ich zwar noch nichtmal gehört, aber den Film dazu (anscheinend auch auf Deutsch dem Originaltitel "Divergent" folgend) auf meiner 2014-eventuell-Liste. Wenn schon dein Urteil über das Buch meinem Vorurteil "Mal wieder Jugend-SF-Action mit interessanter Prämisse, aber vermutlich eher Schrott." entspricht, werde ich es für den Film bei Vor- belassen. ;)

Neil Gaiman - The Ocean at the End of the Lane Endlich mal wieder ein Erwachsenenroman von Neil. Was am Anfang auch gleich mal mit Kätzchentötung betont wird. Trotzdem, teilweise auch deshalb, stimmungsvoller und phantasievoller Einstieg, wie man es von ihm erwartet. Später mehr.

Ipsissimus
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Do 9. Jan 2014, 15:15 - Beitrag #672

na ja, wenn sich ein wirklich guter Drehbuchautor der Geschichte annimmt und konsequent den ganzen Schmarrn rauswirft, könnte immer noch ehrliche Action vom Panem-Stil dabei rauskommen. Ansonsten wird´s grausam.

Feuerkopf
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Fr 10. Jan 2014, 00:33 - Beitrag #673

Habe die Carl Morck-Krimis von Jussi Adler-Olsen für mich entdeckt.

Erbarmen

ist der erste aus einer Reihe von bisher fünf Krimis um den dänischen Ermittler Carl Morck vom Dezernat Q, das alte, ungelöste Fälle bearbeitet.
Es gibt in diesem ersten Band zwei Erzählebenen. Zum einen wird in der Gegenwart Kriminalkomissar Carl Morck eingeführt, der sich noch von einem schrecklichen Erlebnis bei einer Ermittlung erholen muss. Er, der eh schon immer eher schwierig war, wird (und hier dachte ich an "Akte X") in den Keller verbannt zu den unerledigten Fällen. Unterstützung erhält er durch die syrische Hilfskraft Assad, der über erstaunliche Fähigkeiten verfügt. Zum anderen wird die Entführungsgeschichte einer beliebten Politikerin erzählt, die sich über einen langen Zeitraum erstreckt.
Das Ganze ist spannend geschrieben, mit klaren Bilder und deutlichen Worten und fabrizierte bei mir funkelndes Kopfkino.
Demnächst kommt die Verfilmung ins Kino.

janw
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Fr 10. Jan 2014, 21:48 - Beitrag #674

Feuerkopf, Du hast ja genau den gegensätzlichen Geschmack zu Denis Scheck ;) Der lässt den Jussi regelmäßig über die Klippe fliegen.

Feuerkopf
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Sa 11. Jan 2014, 16:11 - Beitrag #675

Jan,
da kannste mal sehen, wie schön es sein kann, einfach nur durch eigenes Stöbern zu einem Leseerlebnis zu kommen. ;)
Ich erwarte bei einem Krimi keine große Kunst, aber einen spannenden Plot. Und den bekomme ich bei Adler-Olsen.
Zur Zeit lese ich in einer kleinen Community eine Fan-Fic (nein, ich werde sie nicht verlinken, weil mir das peinlich ist :P ), die sauspannend und richtig gut geschrieben ist.

Lykurg
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So 12. Jan 2014, 10:02 - Beitrag #676

Feuerkopf, wenn es nicht gerade eine zu Twilight ist, braucht es dir nicht peinlich zu sein! :pro: Ich habe letztes Jahr eine großartige Fanfic zum Herrn der Ringe gelesen (als e-book) und hier kurz besprochen (#617/#618), ich finde, es kommt da mehr auf den Schreiber und seine Ideen an als wie eigenständig die Hintergrundgeschichte ist. Oder sogar im Gegenteil - sich absolut stimmig in ein bestehendes Muster einzufügen und es neu auszudeuten, ist eine eigene Kunst, der ich viel abgewinnen kann.

Feuerkopf
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So 12. Jan 2014, 13:35 - Beitrag #677

Lykurg,
von "Twilight" habe ich den ersten Band gelesen und fand ihn noch leidlich interessant. Den zweiten habe ich fast unglesen wieder zurück in die Bücherei gebracht. Für solch weichgespültes Zeug bin ich echt zu alt. ;) Und der ganze "Shade Of Grey"-Kram ist bis dato ungelesen an mir vorüber gezogen.
Doch gelegentlich bekommt die romantische Seite in mir über eine Geschichte oder einen Film einen Anstoß und dann kann ich mich in gut geschriebene FanFics verlieren für eine sehr erquickliche Zeit. Der Alltag ist grau genug. Ich hab sogar selbst mal wieder angefangen, eine zu schreiben, weil es Spaß macht, in einem vorgegebenen Rahmen eigene Akzente zu setzen.
Habe mal irgendwo gelesen, dass auch etablierte Autoren das gern machen, als Fingerübung, sozusagen.

janw
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So 12. Jan 2014, 22:43 - Beitrag #678

Feuerkopf, der einzige Schatten, der für mich satisfaktionsfähig ist, ist a whiter shade of pale ;)

Ipsissimus
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Fr 24. Jan 2014, 15:41 - Beitrag #679

Don Winslow
Vergeltung

Suhrkamp Verlag, 20. Januar 2014
gelesen: Kindle-Version

Wer sich mit Winslow beschäftigen will, der als wichtigster derzeitiger US-amerikanischer Thrillerautor geführt wird, sollte nicht unbedingt mit Vergeltung beginnen, der Roman ist in mancher Hinsicht untypisch für ihn und bricht mit dem Charakter seiner vorherigen Romane.

Dave Collins ist ein Ex-Delta-Force-Soldat mit Spezialgebiet Terrorismusbekämpfung, der aufgrund des starken familiären Zusammenhalts sein Irak-Trauma soweit im Griff hat, dass er als hauptverantwortlicher Sicherheitsbeauftragter des JFK-Airport New York arbeiten kannst. An demselben Tag, an dem er einen Anschlag auf eines der Hauptterminals des Flughafens verhindern kann, explodiert ein kurz vorher von JFK aus gestartetes Flugzeug mit über 450 Passagieren an Bord - darunter auch seine Frau und sein Sohn - über dem Zentrum von New York; am Boden werden noch viel mehr Menschen sterben.

Soweit so tragisch. Ein Plot wird daraus durch eine Farce: Im Rahmen des Buches gilt der Krieg gegen den Terrorismus als gewonnen, und die USA sind müde, ihn wieder aufflammen zu lassen. Also war der Absturz kein Anschlag, sondern ein Unfall. Diese Version inklusive fingierten Beweisen präsentiert man den Angehörigen der Opfer, und Dave Collins, der kein Indiz findet, den vorgelegten Beweisen zu misstrauen, zieht sich in einen anhaltenden inneren Verfall mit dazu gehörendem Vollrausch zurück, der nach ein paar Wochen in den Entschluss zum Selbstmord mündet. Dazu kommt es nicht, weil ein anderer ehemaliger Elitesoldat mittlerweile Hinweise auf einen Raketenabschuss erhalten hat und diese an Collins weiter leitet.

Nach der Bestätigung ist Collins´ Vertrauen in die amerikanische Regierung und Administration gebrochen; er beginnt mit der Rekrutierung einer Söldnergruppe einen Vergeltungsfeldzug, der an zwei Fronten geführt wird: einmal muss er sich Angriffen seitens Regierungsorganen erwehren, die versuchen, die offizielle Version vom Unfall zu schützen, andererseits macht er sich auf die Suche nach den Drahtziehern und Hintermännern des Anschlags. Ohne dass er dies weiß, ist diese zweite Front ein Wettlauf mit der Zeit, denn der nächste Anschlag ist bereits geplant und wird alles in den Schatten stellen, was bis dahin je bekannt wurde.


Man täte Winslow Unrecht, wollte man ihn mit Tom Clancy vergleichen - Winslow ist viel, viel besser. Auch in Vergeltung geht es, bei aller Drastik der Sprache und aller Geradlinigkeit der Handlung, nur teilweise um action and suspense. Nicht dass diese Aspekte fehlen würden, aber im Zentrum stehen weitreichende Reflexionen um die Bedingungen der amerikanischen Gesellschaft, der Winslow deutlich kritischer gegenüber steht als Clancy. Aber diese kritische Haltung wird dem Leser nicht "aufs Auge gedrückt" sondern verbirgt sich hinter Beschreibungen und Gedanken, die sehr genau gelesen werden müssen, da die Kritik sonst überlesen wird. Das Ambiente von Vergeltung ist, wie schon gesagt, sehr verschieden von dem seiner früheren Romane. Man darf fragen, ob die doch sehr Thriller-artige Oberfläche des Romans wirklich geeignet ist, als Transportmittel für diese Art von Kritik zu dienen, aber einen Versuch war es sicher wert. Ich glaube allerdings nicht, dass das Konzept für mehrere Romane trägt.

Traitor
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So 26. Jan 2014, 14:14 - Beitrag #680

Noch zum Neil: bleibt interessanterweise über fast die gesamte Seitenzahl ein Buch über Kindheitserfahrungen, aber eindeutig aus und für erwachsene(r) Perspektive. Wohl sein bestes seit "American Gods".

Derzeit dann wieder Russen-Wächter, diesmal "des Tages". Alissa könnte sich als interessantere Erzählerin erweisen als Anton.

@Ipsissimus: Klingt mir mindestens so sehr nach Selbstjustizthema wie nach Staatsverschwörungsthema. Wird auch damit kritisch umgegangen, oder sie als gut-wahrhaftige amerikanische Option glorifiziert?

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