Auch wenn es schwierig wird, finde ich es spannend, die eigentlichen Aussagen des Blattes halbwegs unbelastet von den Anschlägen zu diskutieren zu versuchen - wie im
Parallel-Thread geschrieben:
Zitat von Traitor:"nein, einen Anschlag hatten sie nicht verdient" und "nein, der Anschlag gibt keinen allgemeinen Anti-Muslim- oder Anti-Islam-Positionen Recht"
Das vorausgeschickt, denke ich, dass man an eine qualitative und politische Einordnung auch durchaus "posthum" noch sachlich herangehen kann.
Graphisch liefert das Blatt durchgehend ein ziemlich trauriges Bild ab, zweifellos. Intellektuell steht es auch definitiv hinter dem viel größeren und relevanteren "Canard enchaîné" zurück - allein schon daran zu erkennen, dass mein Französich für die allermeisten Charlie-Witze ausreicht, ich bei der Ente aber oft an meine Grenzen stoße.
Inzwischen komme ich, zumindest in Sachen Titelblätter, auf eine halbwegs "repräsentative Auswahl", fürchte aber, dass eine wirkliche Einschätzung eine vollständige statistische Auswertung der "Opfer"-Kategorien voraussetzen würde.
Es gibt zweieinhalb Stufen von Vorwürfen:
1. Charlie Hebdo ist rassistisch.
2a. Charlie Hebdo ist anti-islamisch.
2b. Charlie Hebdo hat eine anti-islamische Schlagseite.
(Und natürlich 3., Charlie Hebdo ist oft geschmacklos und dabei meist nur mäßig intelligent, aber das ist bekanntermaßen kein Verbrechen.)
Vorwurf 1 lehnte die Redaktion stets ab, ohne aber viel mehr als reine Behauptungen zu liefern oder sich auf eine untadelige Vergangenheit zu berufen. (Siehe
diese Stellungnahme in der Monde von 2011.) Auf einen halbwegs engen Sinne des Wortes bezogen (zum weiteren Sinn siehe unten), bin ich aber durchaus gewillt, ihr zu glauben, sofern mir nicht noch besonders viele besonders üble Karikaturen unterkommen - denn die Handvoll einzelner klar rassistischer Zeichnungen, die stets als Beweise zitiert werden, kann man (erschreckenderweise) so auch bei vielen Mainstreampublikationen dort, hier und in anderen Ländern vorweisen. (Dass beispielsweise Obama sehr gerne affenartig dargestellt wird, ist nur teilweise dadurch zu entschuldigen, dass das bei George W. Bush genauso beliebt war.)
2a nehmen sie oberflächlich den Wind aus den Segeln, indem sie sich offen dazu bekennen, und gleichzeitig halt dazu, auch anti- zu allen anderen Religionen zu sein. Eine Position, die sie zwar vielleicht etwas übertreiben (und halt nicht auf sehr intelligente Weise vertreten), die ich aber für durchaus legitim halte.
Fragt sich halt nur, ob das stimmt - sind sie
in gleichem Maße gegen alle Religionen, oder trifft 2b doch zu und sie haben sich (in den letzten 10-15 Jahren?) zu Anti-Islam-Hetzern entwickelt, die die allgemeine Antireligiösität nur noch als Deckmantel für diese Kampagne benutzen? Und sind sie in weiterem Sinne doch rassistisch, indem sie vielleicht nicht klassisch Hass auf körperliche Merkmale und Herkunft schüren, aber alle Menschen mit mehr oder minder stark ausgeprägtem muslimischem Hintergrund über einen Kamm scheren und für Idioten erklären?
Das halte ich wie gesagt für sehr schwer zu beantworten, ohne wirklich in einem wissenschaftlichen Ausmaß die Verteilung ihrer Karikaturen zu untersuchen und/oder deren (explizite wie implizite) Aussagen mit anderen bekannten Stellungnahmen und Positionen der Autoren/Zeichner zu korrelieren.
Beachtenswert finde ich, dass zumindest die meisten der vielzitierten Titelbilder sich doch halbwegs Mühe geben, explizit auf Mohammed, Geistliche oder Extremisten bezogen zu wirken. Zeichnungen "des typischen Muslims" scheinen eher nicht zu ihrem Standardrepertoire zu gehören. Das macht es zumindest leicht unplausibler, dass sie gegen alle Muslime hetzen wollen. Aber es kann genauso gut auch eine geschickte Masche sein, eine doch intendiere Allgemeinhetze mit eben diesem Argument verteidigen zu können. Schwierig zu beurteilen, schwierig.
Interessant ist auch noch die (Anti-)Parallele zur hiesigen Linke-Antisemiten-Problematik. Die Charlies scheinen sich ja gerne darauf zu berufen, gar nicht rassistisch oder sonstwie böse sein zu können, da sie ja schließlich links sind. (Siehe wieder Le Monde.)
@Maglor: Was verstehst du unter "unpolitisch"? Dass es zu wenig um tagesaktuelle Themen geht? (Bzw. oft zu tagesaktuellen Anlässen unspezifische Breitseiten gebracht werden.) Denn in ihrer allgemeinen Brisanz kann man deren Themen doch wohl sicher nicht so nennen.